Beitrag Mensch&Tier

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Freitag, 13. Oktober 2023

„Tiere haben für uns kultur-diagnostischen Wert“

Die Goethe-Universität Frankfurt ist federführend beim Projekt Cultural and Literary Animal Studies (CLAS). Prof. Dr. Roland Borgards und Dr. Esther Köhring, Gründer und Koordinatoren des Forschungsnetzwerks, erklären, was die Geistes- und Kulturwissenschaften zu drängenden Fragen rund um das Verhältnis von Mensch und Tier beitragen können.

Sagen Sie, welches Ziel verfolgt CLAS?

Die Abkürzung CLAS steht für Cultural and Literary Animal Studies. Es geht also um die Rolle der Tiere in unserer Kultur und Literatur. Tiere werden damit zum Forschungsgegenstand für die Geisteswissenschaften, und das heißt: Nicht allein die Biologie, sondern auch die Literatur-, Kunst-, Musik-, Theater-, Film- und Geschichtswissenschaften haben etwas zu den Tieren zu sagen, auch die Philosophie, die Ethnologie, die Soziologie. Die CLAS erschließen also die Welt der Tiere für die Geisteswissenschaften – und dies in interdisziplinärer Vernetzung. Beteiligt am CLAS-Netzwerk sind etwa 150 Forschende aus fast allen deutschsprachigen Universitäten mit je eigenen Projekten. Die vernetzenden Aktivitäten werden aus vielen verschiedenen Quellen finanziert, zum Beispiel der DFG und der Volkswagen-Stiftung.

Die Künste – Literatur, Film, Malerei, Musik – spielen für unsere Forschungen eine besonders wichtige Rolle. So zeigt Herman Melvilles berühmter Roman „Moby Dick“, welche Einstellung man Mitte des 19. Jahrhunderts zu den Tieren hatte und wie ambivalent diese Haltung war: Wale erscheinen dort einerseits als bloße Objekte einer wirtschaftlichen Ausbeutung, andererseits aber auch als intelligente und soziale Wesen, als eigene Persönlichkeiten. Diese Ambivalenz prägt unseren Umgang mit Tieren bis heute, weshalb wir aus einer neuen, Tierfragen fokussierenden Analyse des Romans immer noch viel lernen können.

Womit befassen sich die Forschenden aktuell?

Tiere haben für die CLAS kulturdiagnostischen Wert: Sage mir, wie Du mit Tieren umgehst, und ich sage Dir, wie die Kultur beschaffen ist, in der Du lebst! Deshalb befassen wir uns mit den drängenden Themen unserer Gegenwart, und dies stets aus dem Blickpunkt der Tiere: Welche Rolle spielen die Tiere bei der Aufarbeitung des kolonialen Erbes europäischer Gesellschaften? Wie lässt sich das Verhältnis von Animalität und Gender, von Speziezismus und Paternalismus beschreiben? Welche Funktion haben die Künste für unsere Wahrnehmung von Klimakrise und Artensterben?

Was treibt Sie besonders um? 

Ein Bereich, dem wir uns mit besonderer Dringlichkeit zuwenden, ist die Biodiversität. Was uns dabei beschäftigt, ist nicht allein die Frage, was die Geistes- und Kulturwissenschaften zur Erforschung von Biodiversität und Artenverlust beitragen können. Fast noch wichtiger scheint uns, den Schritt vom Wissen zum Handeln forschend zu begleiten. Denn alles Wissen hilft für die Biodiversitätskrise wenig, wenn sich daraus keine Handlungsänderung ableitet. Welche Rolle spielen bei solchen Prozessen die Künste? Und welche Aufgaben können hier die Kulturwissenschaften übernehmen? Das sind die Fragen, auf die wir erst noch Antworten finden müssen.

Goethe-Universität Frankfurt l Prof. Dr. Roland Borgards l borgards@remove-this.lingua.uni-frankfurt.de