Beitrag Mensch&Tier

Foto: Bundesverband Gemeinschaft Deutscher Tierrettungsdienste e.V.

Donnerstag, 25. April 2024

Wenn die Flucht an der Grenze endet

Flucht heißt Verlust. Von einem Zuhause, Familie, Freunden und nicht selten auch von geliebten Tieren. Mit ihren Begleit- und Therapiehunden baut Kerstin Leidt Brücken, damit Geflüchtete über ihr Trauma sprechen können.

Schnell das Nötigste raffen und weg. Weg von Bomben und Zusammenbruch. Als Russlands Krieg gegen die Ukraine begann, flohen Hunderttausende vor der Gefahr von Zerstörung und Tod. So wie häufig und vielerorts auf der Welt. Zum ersten Mal aber zeigte sich offen, was seit jeher zur Flucht gehört, aber bisher kaum sichtbar war: das Zurücklassen von Tieren. 

„Ein großes persönliches Thema“

Was geschieht mit ihnen? Wie werden sie versorgt, kümmert sich jemand? „Das ist ein großes persönliches Thema, doch darüber gesprochen wird mit Geflüchteten nicht“, sagt Kerstin Leidt. Die Juristin hat nahe Flensburg das Zentrum für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte gegründet, einen gemeinnützigen Bildungsträger für Schulungen mit dem Schwerpunkt Flucht und Migration. „Tiere kommen da praktisch nie vor“, sagt Leidt. Ein blinder Fleck – bis in den Erstunterkünften für Ukrainer auch Hunde, Katzen, Kaninchen, Vögel und Reptilien herumwuselten.

„Viele sind Hals über Kopf losgefahren und haben ihre Tiere mitgenommen, oft ohne Leine, Nahrung und Wasser“, erzählt Leidt. „An der europäischen Grenze haben Tierretter sie dann erstversorgt.“ Tatsächlich kamen in den ersten Wochen der Überforderung viele Tiere mit durch. Inzwischen wird aber wieder konsequent europäisches Seuchen-Heimtierrecht umgesetzt: Die Einreise ist nur mit Heimtierausweis, implantiertem Chip, den vorgeschriebenen Impfungen beziehungsweise nach drei Monaten Quarantäne erlaubt. So endet der Weg vorerst im Tierheim vorm Zaun.

„Trennung kann sprachlos machen“

Eine Trennung, die schmerzt und sprachlos machen kann. Wenn mit Ankommen, Anträgen und der Suche nach Unterkunft oder vermissten Verwandten vieles andere Wichtige zu bewältigen ist, wird das Thema Tier womöglich verdrängt. „Innen drin aber arbeitet es weiter“, hat Kerstin Leidt beobachtet.
Hier bietet sie besondere Unterstützung an – mit der Hilfe ihrer eigenen Hunde. „Als ich mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gearbeitet habe, habe ich sie mal mitgenommen. Und da begannen die Jugendlichen zu reden. ‚Ich habe zu Hause auch Tiere gehabt‘, habe ich plötzlich oft gehört.“ Ein erster Schritt zur Aufarbeitung. Dies hat Leidt auf geschulte Füße gestellt: Heute sind ihre Tiere als Besuchs- und Therapiebegleithunde ausgebildet. Sie bauen die Brücke, durch die der Verlust von Tieren überhaupt zur Sprache kommen kann. 

Sie gar zurückzubekommen, ist kompliziert. Es muss bekannt sein, wo genau das einzelne Tier verblieben ist. Es muss die erwähnten Einreisebedingungen erfüllen und der Transport muss geregelt werden. Das erfordert Geld und Stellen, die sich kümmern. „Eigentlich frappierend: Im Tierschutz fehlen Institutionen, die sich darauf spezialisiert hätten“, meint Leidt.
 
„Flüchtlingshilfe muss weitergedacht werden“

Ein Beispiel ist SPCA International in den USA. Die Organisation hilft, wenn sich streunende Hunde in Einsatzgebieten der US-Armee Soldaten angeschlossen haben und bei Truppenabzug in den Militärmaschinen nicht mitdürfen. Partnerkräfte vor Ort nehmen die Hunde in Obhut und bereiten sie auf den langen Transport vor, der dann per regulärem Flug geregelt wird. Laut Leidt ist das ein mögliches Vorbild für das, was es auch für die Heimtiere von Geflüchteten bräuchte. 

Am wichtigsten sei aber, überhaupt ein Bewusstsein für diese besondere Situation aufzubauen und die Tierbesitzer unter den Geflüchteten zu identifizieren. „Ich bin seit über 20 Jahren dabei und merke immer wieder, dass Flüchtlingshilfe noch weitergedacht werden muss.“ Sie selbst geht das aktiv an: Sie gibt geflüchteten Tierbesitzern eine Stimme.

Kerstin Leidt | Zentrum für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte Bachstraße 28 | 24392 Süderbrarup | 0151-12504496 | info@remove-this.zentrum-fuer-rechtsstaatlichkeit.de

Kerstin Leidt ist Gründerin und Leiterin des Zentrums für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Mit Austausch- und Bildungsangeboten für Schüler und Erwachsene schafft das Zentrum Bewusstsein dafür, was Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte für Demokratien in Europa bedeuten – und was passieren kann, wenn beides bezüglich Flucht und Migration gesellschaftlich neu verhandelt würde.