Beitrag Mensch&Tier

Bauernhof statt Altenheim: Die Arbeit auf dem Bauernhof wirkt für Senior:innen bereichernd und beugt der Vereinsamung vor. Foto: © Andrea Göhring

Donnerstag, 17. November 2022

Zweiter Frühling auf dem Bauernhof

Der Pflegenotstand führt mancherorts dazu, dass geistig oder körperlich eingeschränkte Senioren ein tristes Leben führen. Dem will die Landwirtin Andrea Göhring entgegenwirken: Bei Besuchen auf ihrem Hof kommen betagte Menschen mit Nutztieren, Gerüchen und alten Erinnerungen in heilsamen Kontakt.

Otto Fiesinger sitzt seit einem schweren Schlaganfall im Rollstuhl. Der Senior kann nicht mehr sprechen und kaum noch etwas tun. Es gibt nur eines, das den früheren Landwirt mobilisiert: Ein Besuch auf Hof Göhring, einem Bio-Bauernhof in Baden-Württemberg. Hier kann sich der Mann dazu motivieren, für die Schafe Körner aus der Ähre zu puhlen und zu Flocken zu quetschen. Als ihm die dankbaren Schafe die Füße schlecken, lacht er au

„Ich bin absolut begeistert, in welchem Ausmaß Seniorinnen und Senioren von der tiergestützten Aktivierung mit Hühnern, Kühen, Schafen und anderen Bauernhoftieren profitieren“, sagt Andrea Göhring, Initiatorin des Besuchsprojekts. Die Agrartechnikerin, Bauernhofpädagogin und ESAAT-zertifizierte Fachkraft für tiergestützte Interventionen arbeitete bereits seit Jahren mit förderbedürftigen Kindern, als eine Einrichtung für Tagespflege einen Besuchstermin anfragte. Seitdem kommen die Senioren regelmäßig. Die Besuche werden je nach den Fähigkeiten der Teilnehmer sorgfältig geplant und strukturiert – die alten Menschen sollen in der ländlichen Umgebung gefördert, aber nicht überfordert werden.

Tiere wecken Erinnerungen

Göhrings Schafe sind nicht nur für Otto Fiesinger in seinem Rollstuhl, sondern auch für Zita Bossenmaier das Größte. Die ältere Dame ist Witwe und normalerweise schwer zu motivieren. Keine Aktivität in der Tagespflege vermochte es, sie zu begeistern – bis sie zur Schafweide kam. Dort krault sie die Tiere, bückt sich nach Steinen, betrachtet Blätter und hat sogar Lust, Schafwolle zu spinnen und zu filzen.

Die Schafe sind nicht die einzigen Tiere, mit denen sich die betagten Menschen gern beschäftigen. Kühe, Schweine, Hühner, Ziegen, Esel – jede Tierart bietet andere Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme, zur Pflege und Versorgung. Die Schweine lassen sich bürsten, die Ziegen genießen es, gekrault zu werden und Hahn Henry hüpft gern auf Rollstühle. Alternativ zum Tierkontakt bringen auch die Tätigkeiten im Bauernhofbetrieb Abwechslung und Gesprächsstoff. „Viele ältere Menschen haben ihre Wurzeln in der Landwirtschaft und lieben es, mit unseren Beschäftigten zu fachsimpeln und von früheren eigenen Erlebnissen zu berichten“, erzählt Göhring. Auch andere Aktivitäten rund um das Landleben, die bei schlechtem Wetter drinnen stattfinden, aktivieren die Besucher.

Neue Perspektiven für Bauernhöfe

So geht es auch Lore Riedmüller. Obwohl ihre kognitiven Fähigkeiten zunehmend schwinden, weiß sie beim Griff ins Fühlsäckchen sofort, dass es sich um Kartoffeln handelt. Sie berichtet, wie sie zwischen guten und schlechten Kartoffeln unterscheidet und wie man die Feldfrüchte richtig schält. Das habe sie von ihrer Mutter gelernt. Auch Agnes Bohner, eine Demenzpatientin, sitzt mit am Tisch. Sie verharrt in einem Dämmerzustand, bis sie ein Duftsäckchen in die Hand bekommt. Der Geruch von Heu bringt Agnes Bohner dazu, ihr Gegenüber anzusehen und den Duft richtig zu benennen.

Andrea Göhring hat unzählige weitere Ideen, um die Senioren zu unterhalten, zu erfreuen und zu motivieren. Das reicht von jahreszeitlich passender Deko über gemeinsame Bastelaktionen bis zum Kochen und Backen von einfachen Gerichten. Auch alte Fotos und Geräte können Erinnerungen wecken und Gespräche in Gang bringen. „Selbst eingeschränkte Menschen mit Rollstühlen oder Demenz können auf dem Bauernhof viel erleben, fühlen, riechen, hören und sehen“, sagt sie. „Diese Art der Beschäftigung tut Mensch und Tier gut.“ Zudem könne sie dazu beitragen, Bauernhöfen wieder eine Perspektive zu geben und den Betreuungsnotstand im ländlichen Raum ein wenig zu lindern.

Andrea Göhring l Riedbachstr. 3 88512 Mengen-Rulfingen l 07576 1658 linfo@andrea-goehring.de l www.andrea-goehring.de