Beitrag Mensch&Tier

Foto: iStock/Alfonso Sangiao

Mittwoch, 08. Oktober 2025

Wie Pferde innere Türen öffnen

Wenn Kinder mit Autismus oder anderen Behinderungen auf eine Reittherapeutin treffen, gibt es keinen vorgeschriebenen Fahrplan. Antonie Ebbesmeyer beschreibt in ihrem bemerkenswerten Buch „Erlebnisse einer Reittherapeutin“, wie ein Hund und drei Pferde ihr helfen, Zugang zu besonderen Kindern zu finden.  

Joscha ist zehn Jahre alt. Er spricht kaum mit Außenstehenden, guckt niemandem in die Augen, hat unkontrollierbare Wutanfälle und versteckt sich in der Schule gern unter dem Tisch. Seine Diagnose: frühkindlicher Autismus. Seine Mutter ist alleinerziehend und überfordert. Eine Sozialarbeiterin schlägt vor, dass Joscha eine Reittherapie besucht. So beginnt die Geschichte von Joscha und Antonie Ebbesmeyer.

Herausforderung für Therapeutin und Klienten

In ihrer Autobiografie „Erlebnisse einer Reittherapeutin – Von heldenhaften Pferden und außergewöhnlichen Kindern“ beginnt Ebbesmeyer ihre Erzählung bereits weit vor dem ersten Treffen mit Joscha. Sie berichtet ehrlich und anschaulich, wie sie von einer Erzieherin und Heilpädagogin zur Reittherapeutin wurde, wie ihre Liebe zu Pferden sie immer wieder motivierte und auch, dass ihre persönlichen Umstände durch eine Depression über mehrere Jahre nicht einfach waren. 

Als Joscha und Ebbesmeyer sich das erste Mal begegnen, ist die Reittherapeutin neugierig und gespannt. Schließlich ist Autismus ein sehr spezielles und individuelles Krankheitsbild, auf das keine Ausbildung so richtig vorbereitet. Joscha ist körperliche Nähe unangenehm, er gibt ungern die Hand und beantwortet keine Fragen. An den Pferden hingegen zeigt er Interesse, auch wenn ihm Berührungen von Fell und Mähne zunächst schwerfallen. Einen Helm zu tragen, lehnt er komplett ab. Offen beschreibt Ebbesmeyer, wie schwierig solche Verhaltensweisen selbst für eine ausgebildete Therapeutin auszuhalten sind: „Dabei versuchte ich, weiterhin einen gelassenen und kompetenten Eindruck zu machen, obwohl ich mich gerade nicht so fühlte (…) Ich gab kleine Anweisungen, wie zum Beispiel das Pferd zu klopfen, ich wurde ignoriert. Ein seltsames und unbehagliches Gefühl für mich.“

Kontrolle über Körperhaltung und -sprache erarbeiten

Die Autorin beschreibt detailliert und anschaulich, wie sie sich einen Zugang zu dem introvertierten kleinen Klienten erarbeitet. Wie sie sich in das sehr spezielle Krankheitsbild des frühkindlichen Autismus einarbeitet, wie sie sinnvolle Rituale schafft und lernt, schroffe Zurückweisung nicht persönlich zu nehmen, sondern die Gedankengänge in Joschas Kopf nachzuvollziehen. 

Über mehrere Jahre erarbeiten sich Joscha und Antonie Ebbesmeyer viele kleine Fortschritte. Der Junge profitiert von einem neuen Gefühl der Selbstwirksamkeit, wenn die Ponys und später der Hund ihm folgen und auf seine Kommandos hören. Im Umgang mit den Tieren muss er seine Körperhaltung kontrollieren und die Körpersprache von anderen lesen. Er lernt, Verantwortung für ein Lebewesen zu übernehmen, Bedürfnisse zu erkennen und ein Tier zu versorgen. Auch wenn es ihm schwerfällt, seine Gedanken und Wünsche zu übermitteln, so spricht er doch immer mehr und deutlicher. Auch Joschas Sozialkompetenz im Umgang mit Menschen wächst: Weil ihm die Therapiestunden auf Ebbesmeyers Hof so wichtig sind, bemüht er sich, soziale Konventionen und Regeln einzuhalten.

Das Gelernte aus der Therapie in den Alltag übertragen

All das Gelernte kann Joscha nach einer Weile in sein Alltagsleben übertragen. Es gelingt ihm, in der Schule seine Wünsche und Sorgen zu äußern. So kann er endlich Kontakte zu seiner Außenwelt knüpfen. Als Joscha nach mehreren Jahren auf eigenen Wunsch die Reittherapie beendet, ist er deutlich integrierter und handlungsfähiger. Auch seine Mutter hat extrem von der Behandlung profitiert: Sie hat nun einen Sohn, der sich äußern und begrenzt kontrollieren kann. Der seine Liebe zur Natur entdeckt hat und mit ihr gern Ausflüge im Freien unternimmt. Auch wenn der Weg in ein selbstständiges Leben noch weit ist – die soziale Isolation ist beendet.

Antonie Ebbesmeyer | Erlebnisse einer Reittherapeutin – Von heldenhaften Pferden und außergewöhnlichen Kindern | Kosmos Verlag | 175 Seiten | 20 Euro | ISBN 978-3-440-18082-2