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Hundegestützte Intervention: Therapiebegleithund Merlin verbessert das Wohlbefinden von Senioren im Pflegeheim. Foto: Haus Billetal

Dienstag, 06. Juni 2023

Pfötchen geben statt Pillen

Eine ausgebildete Hündin hat in einem norddeutschen Seniorenheim einen besseren Effekt als Beruhigungsmittel. Voraussetzung für eine so erfolgreiche tiergestützte Intervention ist ein Konzept, das Tiere, Personal und Klienten schützt.

Herr L. macht es seinen Betreuern nicht leicht. Seine letzten Lebensjahre verbringt der rund 70-Jährige im Pflegeheim Haus Billetal in Schleswig-Holstein. Neun von zehn Bewohnern leiden unter Demenz, Depressionen oder Psychosen – so auch Herr L. Immer wieder fällt der Senior auf, weil er auf dem Flur sitzt und weint oder Mitbewohner und Personal verbal oder körperlich attackiert. Insgesamt 57 aggressive Vorfälle dokumentieren die Betreuer innerhalb eines Jahres. Die Eskalationen können meistens nur durch Beruhigungsmittel entschärft werden.

Positive Reaktion auf Hündin Nora

Das ändert sich erst, als Herr L. durch einen Zufall die Therapiebegleithündin Nora kennenlernt. Er sitzt im Flur, als der Psychologe Roberto Rotondo mit dem schwarzen Flat Coated Retriever vorbeikommt. „Als er den Hund sah, hat sich sein angespannter Gesichtsausdruck sofort verändert“, berichtet Rotondo von der Begegnung. „Er reagierte ungewohnt freundlich auf Nora, kraulte sie und zeigte reges Interesse, Zeit mit ihr zu verbringen.“

Der Psychologe schlägt den zuständigen Betreuern vor, Herrn L. regelmäßig hundegestützte Interventionen anzubieten. Besonders in eskalierenden Situationen sollen er und Nora künftig gerufen und so die Gabe von Beruhigungsmitteln verhindert werden. „Zum Schutz des Hundes war ich als Hundeführer natürlich immer dabei und habe mir ein genaues Bild davon gemacht, ob ein Einsatz in diesem Moment sinnvoll und möglich ist“, berichtet Rotondo rückblickend.

Hundekontakt statt Medikamente

Der Plan funktioniert. Kaum erscheint die Hündin, beruhigt sich Herr L. und lässt sich von seinem Ärger ablenken. Die Dokumentation der Medikamentengaben zeigt, dass künftig nur noch Beruhigungsmittel notwendig werden, wenn Rotondo und Nora nicht im Haus sind oder aus anderen Gründen nicht zum Einsatz bei Herrn L. kommen können.

Auch bei anderen Patienten zeigt sich die tiergestützte Therapie im Haus Billetal ausgesprochen wirksam. Gemeinsam mit Carina Wrobel, der Leitung der sozialen Betreuung im Haus, erstellt Rotondo ein umfassendes Konzept. Dieses orientiert sich an den Vorgaben der European Society of Animal-Assisted Therapy (ESAAT) und den Infektionsschutzgesetz-Hygieneverordnungen des Landes Schleswig-Holstein.

Das Konzept legt genau fest, welche Räume für tiergestützte Interventionen infrage kommen und welche Rückzugszonen für die beiden Therapiebegleithunde Nora und Merlin sowie die heimeigenen Kaninchen und Hühner einzurichten sind. Mögliche Risiken für die Tiere, das Personal und die Heimbewohner sind transparent aufgelistet. Die tiergestützten Interventionen werden im Voraus geplant und detailliert dokumentiert.

„Die ganze Atmosphäre hat sich verändert“

„Seit die Tiere im Haus Billetal präsent sind, hat sich die ganze Atmosphäre positiv verändert“, zieht Psychologe Rotondo Bilanz. „Der Umgang mit unseren zwei Hunden, zehn Kaninchen und sechs Hühnern ist für viele Bewohner eine willkommene Ablenkung vom tristen Alltag. Das macht sie ruhiger und zufriedener, was wiederum unser Personal entlastet.“

In Einzelsettings können Bewohner über einen begrenzten Zeitraum individuelle Förderung erhalten. Meist erfolgt dies direkt nach dem Einzug der Senioren, wenn Heimweh und Verwirrtheit den Alltag besonders erschweren. Die Therapieziele drehen sich beispielsweise um Motivation, Kommunikation, Trost, Ablenkung von Schmerzen, motorisches Training und das Gefühl, endlich einmal wieder gebraucht zu werden – nämlich bei der Versorgung eines schutzbedürftigen Tieres.

Wrobel und Rotondo, die beiden ausgebildeten Fachkräfte für tiergestützte Interventionen, besprechen individuelle Förderziele für einzelne Bewohner mit Pflege- und Betreuungsmitarbeitern, mit Angehörigen oder gesetzlichen Betreuern. „Der Einsatz der Tiere erfolgt ausschließlich bei begründeten Erfolgsaussichten“, sagt Rotondo. Die Förderziele sind in einer zielführenden Therapieplanung schriftlich festzuhalten. Diese definiert zudem Zeitfenster in der Tagesstruktur, vorhandene Kompetenzen und Ressourcen des jeweiligen Bewohners sowie eine Risikobewertung.

Verantwortungsvoller Umgang mit dem Tier

Nach der Begrüßung und den Hygienemaßnahmen beginnt das Setting mit dem Beziehungsaufbau zwischen Klient und Tier“, beschreibt Rotondo eine Sitzung. „Anschließend folgen zielführend therapeutische Maßnahmen, beispielsweise Futter vorbereiten, Spiele, Bewegungsübungen oder Lieder singen, die in Verbindung mit dem Tier stehen.“ Am Ende des Settings steht wieder die Interaktion mit dem Tier, um positive Verknüpfungen herzustellen.

Auch für das Wohl der Tiere wird gesorgt. „Zu häufiges Einsetzen der Tiere, eine nicht artgerechte Pflege, Haltung oder Beschäftigung können zu psychischer Überforderung, Überbelastung und Stress führen“, sagt Rotondo. Deshalb ist genau festgelegt, wie die Tiere gehalten, trainiert und eingesetzt werden. Denn nur ein zufriedenes und artgerecht gehaltenes Tier kann seine positive Wirkung auf Menschen voll entfalten.

Gern stellt das Haus Billetal sein Konzept der tiergestützten Interventionen für eine wissenschaftliche Dokumentation und Auswertung zur Verfügung, beispielsweise im Rahmen einer akademischen Abschlussarbeit.

Seniorenpartner Elisabeth Schulz GmbH & Co. KG | Pflegeheim Haus Billetal | Roberto Rotondo l Billetal 68 | 22946 Trittau | roberto.rotondo@senpart.de