Beitrag Mensch&Tier

Foto: Jacqueline Boitier

Dienstag, 10. September 2024

Ameisen in der Therapie: "Ein ganz feiner Reiz"

Krabbeltiere als Therapiehilfen? Die Ergotherapeutin Jacqueline Boitier aus der Schweiz hält ihre Ameisen nicht nur als Heimtiere. Sie setzt sie auch bei tiergestützten Interventionen mit Kindern ein – ein Pilotprojekt mit vielversprechendem Erfolg.

„Es ist hochspannend zu sehen, wie diese kleinen Wesen ihr Sozialleben gestalten“, sagt Jacqueline Boitier. Sie ist fasziniert von dem munteren Treiben, von dem sie ebenso lebendig erzählt. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Immerhin arbeiten Vater und Bruder in einer Firma für Schädlingsbekämpfung. Boitier ist den entgegengesetzten Weg gegangen: Sie hat sich ein Formicarium, ein spezielles Terrarium für Ameisen, mit einem Volk Schwarzer Gartenameisen ins Haus geholt. „Da wird familiär schon mal rege diskutiert“, lacht sie.

Ameisenkönigin in Aktion

Die ausgebildete Grafikerin und Ergotherapeutin hat zusätzlich Psychomotorik an der Universität Wien studiert. Zeitgleich arbeitete sie an einer öffentlichen Schule im Kanton Zürich, wo sie eine neue Therapiestelle mit tiergestützter Intervention und Therapiegarten aufbaute. Das Konzept für den Garten und die Therapie mit Tierunterstützung entwarf sie in ihrer Masterarbeit. Zusammen mit ihrem Therapiehund Boomi sowie ihrer Ameisenkönigin Rose und deren Kolonie begleitete sie dort im Anschluss beispielsweise Kinder und Jugendliche mit ADHS. 

Beobachten, nicht anfassen

Anders als mit ihrem Therapiebegleithund Boomi arbeitet Boitier mit den Ameisen nicht im direkten Kontakt. Hier geht es ums Beobachten. So ist das Formicarium für die Kinder wie eine Blickschulung für das eigene Empfinden, ihre Umgebung und ihr Verhalten darin. „Wir lesen etwas über Ameisen, wir beobachten und füttern sie oder basteln Ameisen“, beschreibt Boitier ihr Konzept. „Das fördert Umweltbewusstsein, Aufmerksamkeit, Impulskontrolle, Fürsorgeverhalten und Feinmotorik zugleich – eigentlich alles, was im Therapiespektrum so aufkommen kann.“ 

Ein Junge habe beispielsweise mithilfe der Ameisen gelernt, sich selbst zu regulieren. „Er ließ sich zwei Meter vom Kletternetz zu Boden fallen, so starke körperliche Inputs brauchte er“, erinnert sich Boitier. „Dann ging er immer wieder zu den Ameisen und sah nach, was sie gerade machen. So hat er dann zwei, drei Minuten in aller Ruhe geguckt, dann ging’s wieder zurück zur Grobmotorik aufs Netz.“ Im Laufe 
der Zeit wurden die Zeiten bei den Ameisen dann länger und der Junge gelassener. 

Insekten für Introvertierte

Können die Ameisen womöglich etwas, was sie Hund Boomi voraus haben? Für Boitier haben beide eigene Stärken. „Beide Tiere locken die Kinder aus der Reserve und unterstützen sie beim Umgang mit Gefühlen und Impulsen. Nur auf ganz unterschiedliche Art: Boomi neigt dazu, eher anzutreiben. Er animiert dazu, etwas zu tun – zum Streicheln oder zu Tricks. Von sich aus aufgeschlossene Kinder kommen damit gut klar. Ameisen eignen sich dagegen gut für zurückhaltende Kinder, für die ein Hund zu fordernd oder gar überfordernd ist. Ameisen sind ein ganz feiner Reiz. Für einige ist dies schon genug.“ 

Wichtig ist ihr, jedes Therapiebegleittier so respektvoll zu behandeln wie Mitarbeitende. Daher würde sie keine exotischen Ameisenarten halten. Denn Boitier zufolge leben alle Ameisenarten in filigranen, empfindlichen Systemen. Und je spezialisierter das ist, desto eher komme man in den Bereich von professioneller Tierpflege. Für die tiergestützte Intervention rät sie daher, bei der heimischen Schwarzen Gartenameise zu bleiben. Denn selbst da sei es durchaus herausfordernd, das Formicarium möglichst naturgetreu einzurichten.

Jetzt, nach den Sommerferien, übergibt Boitier den Schulgarten inklusive der offiziellen Erlaubnis zur tiergestützten Intervention an eine Nachfolgekraft. Boomi und die Ameisenkolonie indes werden mit ihr ziehen zur nächsten Stelle – mit neuen therapeutischen Herausforderungen.

Jacqueline Boitier | j.boitier@remove-this.bluewin.ch
 

Statt mit dem Tier durch und für das Tier
Ameisen eignen sich nicht für den direkten Kontakt. Das hat praktische, aber auch ethische Gründe. Denn Ameisen sind nicht domestiziert. Der klassische Ansatz der tiergestützten Intervention, „mit“ Tieren zu arbeiten, verbietet sich daher laut den Regeln des Internationalen Dachverbands für die Erforschung der Mensch-Tier-Beziehung (IAHAIO) sowie der Association of Zoos and Aquariums (AZA). Die Ansätze, „durch“ oder „für“ die Tiere zu arbeiten, sind dagegen möglich.